Teilhabe ermöglichen trotz Sehverlust im Alter: Aktuelle Lage, Versorgungslücken und politische Forderungen

Der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband (DBSV) hat am 5. November 2025 in Berlin zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe für ältere Menschen mit Sehverlust aufgerufen. Bei einer Veranstaltung in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft forderten Vertreter aus Politik und Verbänden bessere Früherkennung und nachhaltige Rehabilitation. Das gemeinsame Projekt von DBSV und BAGSO will diese Themen stärker ins politische Blickfeld rücken.
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Inhaltsübersicht

– DBSV veranstaltete Parlamentarischen Abend zu Teilhabe bei Sehverlust im Alter
– Früherkennung und Rehabilitation als Schlüssel für gesellschaftliche Teilhabe betont
– Projekt zur Stärkung politischer Partizipation älterer Menschen mit Behinderungen

Teilhabe ermöglichen – auch im Alter, auch mit Sehverlust!

In der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin hat der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband am Dienstagabend die politische Teilhabe älterer Menschen mit Seheinschränkungen in den Mittelpunkt gestellt.*

„Wenn gesundheitliche Einschränkungen frühzeitig erkannt werden, kann der Sehverlust in vielen Fällen gebremst werden. So bleibt gesellschaftliche Teilhabe länger möglich und die Lebensqualität verbessert sich über viele Jahre.“

Diese Worte von Tino Sorge, MdB, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit und Schirmherr der Veranstaltung, unterstreichen die Bedeutung präventiver Maßnahmen.

Ehrengast Franz Müntefering, Minister a.D. und ehemaliger BAGSO-Vorsitzender, verwies in seinem Impuls auf den Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden! Für sein langjähriges Engagement für die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen erhielt er im Anschluss die Ehrenmedaille des DBSV.

Die fachliche Perspektive brachten zwei Wissenschaftler ein: Univ.-Prof. Dr. Dr. med. Robert P. Finger von der Universitätsmedizin Mannheim wies auf den steigenden Bedarf an ophthalmologischen Leistungen hin, während apl. Prof. Dr. Sabine Lauber-Pohle von der Philipps-Universität Marburg die Rehabilitation bei Sehbeeinträchtigung im Alter thematisierte.

„Zu lernen, wie man im Alltag mit einer Seheinschränkung zurechtkommt, ist natürlich die Voraussetzung, um sich politisch engagieren zu können. Augenerkrankungen und die Situation von Menschen mit Sehverlust haben derzeit weder im Gesundheitswesen noch gesamtgesellschaftlich den Stellenwert, den sie haben sollten“, betonte Andreas Bethke, Geschäftsführer des DBSV.

Margit Hankewitz aus dem BAGSO-Vorstand forderte Strukturen, die ein gutes Leben in jedem Alter ermöglichen. Sie betonte die Notwendigkeit, Menschen zu unterstützen, die solche Strukturen nicht selbstständig nutzen können.

Die Veranstaltung knüpfte an bestehende Initiativen an: DBSV und BAGSO haben 2014 gemeinsam das Aktionsbündnis "Sehen im Alter" gegründet.* Das Projekt "Partizipation älterer Menschen mit Behinderungen stärken" wird vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales gefördert.*

Sehbehinderungen in Deutschland: Verbreitung und demografische Entwicklung

In Deutschland leben viele sehbehinderte und blinde Menschen, ein großer Teil davon ist 75 Jahre oder älter*. Diese Zahl verdeutlicht die enge Verbindung zwischen Sehbeeinträchtigungen und dem Lebensalter. Zu den häufigsten Ursachen für Sehverlust zählen altersbedingte Makuladegeneration, Grauer Star und Grüner Star*.

Die demografische Entwicklung in Deutschland verstärkt diese Situation weiter. Mit einer zunehmend älter werdenden Bevölkerung wächst automatisch der Anteil der Menschen, die von Augenerkrankungen betroffen sein können. Dieser Zusammenhang erklärt den steigenden Bedarf an augenärztlicher Versorgung und speziellen Unterstützungsangeboten. Ein Experte bestätigt diesen Trend und weist auf den wachsenden Bedarf an ophthalmologischen Leistungen zur Prävention und Versorgung hin*.

Die Altersstruktur der Betroffenen unterstreicht die Bedeutung von Konzepten, die speziell auf die Bedürfnisse älterer Menschen mit Seheinschränkungen zugeschnitten sind. Denn mit fortschreitendem Alter häufen sich nicht nur Augenerkrankungen, sondern auch andere gesundheitliche Einschränkungen, die die Bewältigung des Alltags zusätzlich erschweren können.

Versorgungslücken und gesetzlicher Rahmen

Die augenmedizinische Versorgung in Deutschland zeigt seit Jahren systematische Defizite. Eine Studie der Universität Würzburg dokumentierte gravierende Lücken in Senioreneinrichtungen aus den Jahren 2012 bis 2015*. Die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR) konstatierte 2016 das Fehlen einer geregelten ophthalmologischen Rehabilitation*. Aktuelle Erkenntnisse der Deutschen Blindenstudienanstalt (Blista) bestätigen 2024 weiterhin keine flächendeckende Etablierung*. Dem stehen rechtliche Verpflichtungen aus Grundgesetz und Bundesteilhabegesetz gegenüber, die 2025 uneingeschränkt Gültigkeit besitzen.

Versorgungslücken: Studienlage

Eine Untersuchung der Universität Würzburg aus den Jahren 2012 bis 2015 belegt erhebliche Mängel in der augenmedizinischen Versorgung von Pflegeheimbewohnern. In vielen Einrichtungen wurden Seheinschränkungen weder systematisch erkannt noch angemessen behandelt*.

Bereits 2016 stellte die Deutsche Vereinigung für Rehabilitation fest, dass in Deutschland aus rechtlichen und praktischen Gründen keine geregelte medizinische Rehabilitation bei Sehverlust existiert. Besonders ältere Menschen ohne Erwerbstätigkeit fallen häufig durch das Raster regulärer Reha-Leistungen. Ein interdisziplinäres Gesamtkonzept für ophthalmologische Grundrehabilitation fehlt bis heute*.

Der aktuelle Befund zur Rehabilitation bestätigt diese Lage: Eine ophthalmologische Rehabilitation ist in Deutschland 2024 nicht flächendeckend etabliert. Bisher konzentrieren sich Angebote eher auf einzelne Trainingsbereiche wie den Umgang mit dem weißen Stock, statt umfassende Reha-Leistungen bereitzustellen*.

Rechtliche Rahmenbedingungen

Dem bestehenden Versorgungsdefizit stehen klare rechtliche Verpflichtungen gegenüber. Artikel 3 des Grundgesetzes und das Bundesteilhabegesetz verpflichten zur Gleichstellung und umfassenden Barrierefreiheit für Menschen mit Behinderung. Kommunen sind laut § 83 SGB IX dazu verpflichtet, "zur Förderung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft Leistungen zur sozialen Teilhabe" bereitzustellen*.

Jahr Kernaussage Quelle/Stand
2012–2015 Gravierende Lücken in der augenmedizinischen Versorgung in Senioreneinrichtungen Universität Würzburg
2016 Fehlende geregelte medizinische Rehabilitation bei Sehverlust DVfR
2024 Ophthalmologische Rehabilitation nicht flächendeckend etabliert Blista
2025 Rechtliche Verpflichtung zu Gleichstellung und Barrierefreiheit Grundgesetz, SGB IX

Die Diskrepanz zwischen rechtlichen Ansprüchen und praktischer Umsetzung bleibt damit eine zentrale Herausforderung im Versorgungssystem für Menschen mit Seheinschränkungen.

Was Betroffene sagen und welche Barrieren Teilhabe verhindern

Eine aktuelle Umfrage unter älteren Menschen mit Sehverlust zeigt die Herausforderungen für gesellschaftliche Teilhabe*. Die Ergebnisse unterstreichen, dass fehlende Barrierefreiheit und mangelnde Assistenz wesentliche Teilhabebarrieren darstellen*. Besonders auffällig ist die Diskrepanz zwischen Bedarf und Angebot bei Rehabilitationsmaßnahmen: Obwohl Betroffene geeignete Rehabilitationsmaßnahmen, insbesondere lebenspraktische Fähigkeiten, als besonders wichtig einschätzen, sind diese keine Regelleistung im deutschen Gesundheitssystem*.

Hauptbefunde der Umfrage

Die erhobenen Daten verdeutlichen Problemfelder, die Betroffene im Alltag und bei ihrem gesellschaftlichen Engagement behindern*:

  • Fehlender Zugang zu notwendigen Hilfsmitteln
  • Mangelnde Assistenz bei alltäglichen Aufgaben
  • Fehlende flächendeckende Rehabilitation als Regelleistung

Konsequenzen für Alltag und Engagement

Diese Barrieren haben konkrete Auswirkungen auf die Lebensrealität älterer Menschen mit Sehverlust. Der eingeschränkte Zugang zu Hilfsmitteln bedeutet praktische Einschränkungen bei der Bewältigung des Alltags. Fehlende Assistenz führt dazu, dass selbst einfache Wege oder Besorgungen zur Herausforderung werden. Die mangelnde Verfügbarkeit von Rehabilitationsmaßnahmen verhindert, dass Betroffene Kompetenzen erlernen können, um mit ihrer Seheinschränkung im Alltag besser zurechtzukommen. Zusammengenommen schränken diese Faktoren nicht nur die persönliche Lebensqualität ein, sondern verhindern auch die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben – von politischer Beteiligung bis hin zu sozialen Aktivitäten.

Handlungsfelder für Politik, Gesundheitswesen und Kommunen

Die bisherigen Kapitel haben deutlich gemacht: Die demografische Entwicklung führt zu steigenden Fallzahlen bei Augenerkrankungen, während gleichzeitig Versorgungslücken und rechtliche Umsetzungsdefizite die Teilhabechancen älterer Menschen mit Sehbeeinträchtigungen beeinträchtigen. Aus diesen Befunden ergeben sich drei zentrale Handlungsfelder, die jetzt konsequent angegangen werden müssen.

Früherkennung und Zugang zu augenärztlichen Leistungen bilden die erste Priorität. Wie in Kapitel 2 dargestellt, steigt der Bedarf an ophthalmologischen Leistungen zur Prävention und Versorgung mit der Alterung der Bevölkerung. Systematische Früherkennungsprogramme könnten nicht nur Sehverlust in vielen Fällen bremsen, sondern auch die Grundlage für rechtzeitige Anpassungsprozesse schaffen.

Die Entwicklung und Implementierung eines interdisziplinären Konzepts für ophthalmologische Grundrehabilitation stellt das zweite zentrale Handlungsfeld dar. Die in Kapitel 3 dokumentierten Erfahrungen Betroffener zeigen: Zu lernen, wie man im Alltag mit einer Seheinschränkung zurechtkommt, ist die Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe. Ein solches Konzept muss niedrigschwellig zugänglich sein und verschiedene Fachdisziplinen integrieren.

Drittens gilt es, die kommunale Verantwortung nach § 83 SGB IX zu operationalisieren. Die BAGSO-Fachpublikation zur Teilhabe (Stand: 2025)* unterstreicht, dass die Unterstützung zur gesellschaftlichen Teilnahme zu einer sozialstaatlichen, kommunalen Pflichtaufgabe werden muss. Nur so lässt sich verhindern, dass bereits erreichte Teilhabestandards Kürzungen und Sparmaßnahmen zum Opfer fallen.

Prioritäre Maßnahmen im Überblick

  • Ausbau von Reha-Angeboten für Menschen mit Sehbeeinträchtigungen
  • Sicherstellung des Hilfsmittelzugangs ohne bürokratische Hürden
  • Finanzierung kommunaler Teilhabeangebote als Daueraufgabe

Politik, Krankenkassen und Kommunen stehen in der Pflicht, diese Maßnahmen umzusetzen. Die demografische Entwicklung lässt keinen Aufschub zu – je früher die Weichen für inklusive Strukturen gestellt werden, desto geringer fallen die Folgekosten aus und desto mehr Menschen können bis ins hohe Alter aktiv am gesellschaftlichen Leben teilhaben.

Die nachfolgenden Informationen stammen aus einer Pressemitteilung des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. (DBSV).

Weiterführende Quellen:

10 Antworten

  1. Ich bin froh zu lesen,dass so ein wichtiges Thema besprochen wird.Hoffentlich gibt es bald Lösungen!Was sind mögliche nächste Schritte für eine bessere Teilhabe für ältere Menschen mit Sehverlust?

    1. Es ist erfreulich,dass Initiativen wie das Aktionsbündnis „Sehen im Alter“ existieren.Welche Erfolge gab es bisher?

  2. … es ist traurig zu hören, dass so viele Menschen trotz gesetzlicher Vorgaben nicht die Unterstützung bekommen, die sie brauchen! Wer könnte Druck aufbauen, um das zu ändern?

  3. Die Veranstaltung klingt sehr interessant und notwendig. Vor allem die Unterstützung älterer Menschen ist entscheidend! Welche Maßnahmen könnten aus Ihrer Sicht am effektivsten sein, um diese Teilhabe zu fördern?

    1. … vielleicht sollten wir auch über Schulungen nachdenken? Damit die Betroffenen lernen können, wie sie besser mit ihrer Seheinschränkung umgehen können.

    2. … ich denke auch an die Wichtigkeit von Barrierefreiheit im öffentlichen Raum! Wie können wir das in unseren Städten verbessern?

  4. Die angesprochenen Probleme sind wirklich gravierend. Besonders die Lücken in der medizinischen Versorgung sollten dringend angegangen werden. Wie kann die Politik hier schneller handeln? Ich hoffe, dass solche Veranstaltungen mehr Aufmerksamkeit bringen.

    1. Ja, ich stimme zu! Es wäre gut, wenn mehr Menschen auf diese Probleme aufmerksam gemacht werden. Die gesetzlichen Regelungen müssen auch umgesetzt werden!

    2. Das Thema ist sehr wichtig! Ich denke, es sollte auch mehr öffentliche Diskussionen dazu geben. Wo könnten solche Gespräche stattfinden?

  5. Ich finde den Artikel sehr informativ und wichtig. Es ist erschreckend, wie viele Menschen mit Sehbehinderung Schwierigkeiten haben, Teilhabe zu erfahren. Was könnte man tun, um das Bewusstsein für diese Themen zu schärfen?

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