– Hälfte psychischer Erkrankungen beginnt bereits im Jugendalter
– DPtV fordert mehr Prävention und wohnortnahe Therapieplätze
– Bessere Vernetzung der Hilfesysteme für frühe Intervention nötig
Psychische Gesundheit: DPtV fordert bessere Versorgung für junge Menschen
Berlin, 9. Oktober 2025 – Anlässlich der Woche der seelischen Gesundheit positioniert sich die Deutsche PsychotherapeutenVereinigung (DPtV) mit klaren Forderungen: mehr Prävention und eine wohnortnahe Versorgung für Kinder und Jugendliche. Die Fachgesellschaft macht deutlich, dass die Weichen für die psychische Gesundheit der Bevölkerung früh gestellt werden müssen.
„Etwa die Hälfte der psychischen Erkrankungen beginnt spätestens im Jugendalter. Wenn wir langfristig die psychische Gesundheit in Deutschland verbessern wollen, müssen wir heute bei den jungen Menschen ansetzen“, sagt Dr. Josepha Katzmann, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Mitglied im Bundesvorstand der DPtV.
Die Expertin betont die Dringlichkeit einer besseren Versorgungsstruktur: „Für eine wohnortnahe Versorgung brauchen wir dringend mehr Behandlungsplätze für Kinder und Jugendliche – insbesondere in ländlichen und strukturschwachen Regionen. Lange Anfahrtswege und Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind für Betroffene und Familien eine unzumutbare Belastung.“
Die zeitnahe Behandlung psychischer Probleme bei jungen Menschen ist entscheidend, wie Katzmann weiter ausführt: „Je länger eine psychische Erkrankung unbehandelt besteht, desto höher ist das Risiko einer Chronifizierung, desto länger und stärker sind Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag eingeschränkt.“
Neben der Behandlung bestehender Erkrankungen fordert die DPtV verstärkte Aufklärungsarbeit: „Kinder und Jugendliche, aber auch deren Eltern oder Bezugspersonen wie Lehrerinnen sollten umfassend darüber informiert sein, was der psychischen Gesundheit schadet und wie man früh entgegenwirken kann.“* Allerdings kritisiert Katzmann, dass „viele gute Ideen und Projekte, die aber oft nur kurzfristig finanziert oder in sehr kleinem Rahmen umgesetzt werden.“
Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf der Vernetzung zwischen verschiedenen Hilfesystemen. Zwar gebe es mit der Richtlinie zur Komplexbehandlung nach § 92 Abs. 6b SGB V einen ersten Schritt, dieser sei jedoch „viel zu bürokratisch und auf schwer beeinträchtigte Kinder und Jugendliche beschränkt.“ Katzmann fordert daher: „Wir brauchen flexible Lösungen, die auch dann greifen, wenn die soziale Beeinträchtigung noch nicht voll ausgeprägt ist.“
Hintergrund: Bedarf und Versorgungslücken
Die Forderungen der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung nach mehr Therapieplätzen für junge Menschen stehen vor einem konkreten datenbasierten Hintergrund. Aktuelle Studien belegen strukturelle Engpässe in der Versorgung, die besonders Kinder und Jugendliche in ländlichen Regionen betreffen.
Die Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendpsychiatrie sieht eine Versorgungsdichte von 15.210 Einwohnerinnen und Einwohnern unter 18 Jahren pro Arzt oder Ärztin vor – Stand 2022. Diese Richtgröße verdeutlicht den quantitativen Rahmen, den Fachleute für notwendig erachten. Gleichzeitig zeigt die Analyse, dass die ländliche Versorgung weiterhin deutlich schlechter ausfällt als in städtischen Gebieten. Die Daten stammen aus einer wissenschaftlichen Veröffentlichung von 2023.
Noch deutlicher werden die Versorgungsdefizite bei den Wartezeiten für Psychotherapieplätze:
- 43,4 Prozent der Betroffenen warten länger als einen Monat auf ein Erstgespräch (Veröffentlichung: 2022)
- 38,8 Prozent beginnen ihre Behandlung erst nach mehr als sechs Monaten Wartezeit (Veröffentlichung: 2022)
Diese Zahlen unterstreichen die Dringlichkeit der von der DPtV angemahnten Situation. Dr. Josepha Katzmann, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin im DPtV-Bundesvorstand, betont: "Lange Anfahrtswege und Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind für Betroffene und Familien eine unzumutbare Belastung." Die Daten zeigen, dass diese Belastung für viele junge Patienten Realität ist.
Zahlencheck: Nutzung und Diagnosen
Die Inanspruchnahme psychotherapeutischer Leistungen bei jungen Menschen zeigt einen deutlichen Aufwärtstrend. Bereits 2019 befanden sich rund 823.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 24 Jahren in psychotherapeutischer Behandlung (Stand: 2019; Veröffentlichung: 2021). Gegenüber 2009 bedeutet dies einen Anstieg um 104 Prozent – mehr als eine Verdoppelung innerhalb eines Jahrzehnts.
Regionale Unterschiede
Die Versorgungssituation variiert erheblich zwischen den Bundesländern. Während in Berlin 2019 5,19 Prozent der jungen Menschen psychotherapeutisch behandelt wurden, lag der Anteil in Mecklenburg-Vorpommern bei nur 3,33 Prozent (Stand: 2019; Veröffentlichung: 4. März 2021). Diese regionale Spreizung von fast zwei Prozentpunkten verdeutlicht die ungleiche Versorgungsdichte.
Die Dynamik setzte sich auch während der Pandemie fort: Im ersten Halbjahr 2020 stieg die Zahl der abgerechneten Leistungseinheiten um 3,7 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Noch deutlicher fiel der Anstieg bei den Anträgen auf neue Therapien aus – hier verzeichnete das Gesamtjahr 2020 ein Plus von 6,3 Prozent im Vergleich zu 2019 (Stand: 1. Halbjahr 2020 bzw. Gesamtjahr 2020; Veröffentlichung: 4. März 2021).
Diagnosen-Schwerpunkte 2019
Die diagnostische Landschaft konzentriert sich auf vier Hauptbereiche, die zusammen 69 Prozent aller Behandlungsfälle bei jungen Menschen ausmachen (Stand: 2019; Veröffentlichung: 4. März 2021):
- Reaktionen auf schwere Belastungen: 23,0 %
- Depressionen: 18,4 %
- Angststörungen: 14,0 %
- Emotionale Störungen des Kindesalters: 13,6 %
Diese Verteilung unterstreicht, wie stark junge Menschen auf akute Belastungssituationen reagieren und welche zentrale Rolle affektive Störungen in dieser Altersgruppe spielen.
Wenn die Seele junger Menschen leidet – warum uns alle das betrifft
Stellen Sie sich einen Jugendlichen vor, der sich jeden Morgen in der Schule quält. Die Konzentration schwindet, die Motivation fehlt, das soziale Miteinander wird zur Belastung. Zu Hause zieht er sich zurück, die Eltern sind besorgt, wissen aber nicht, wo sie Hilfe finden sollen. Oder denken Sie an eine Grundschülerin, die nach der Trennung ihrer Eltern plötzlich aggressiv reagiert – die Lehrerin bemerkt die Veränderung, hat jedoch weder Zeit noch Wissen für angemessene Unterstützung. Diese Szenarien sind kein Einzelschicksal, sondern Alltag in vielen Familien und Bildungseinrichtungen.
Die Herausforderungen psychischer Gesundheit bei jungen Menschen wirken wie ein Stein, der ins Wasser geworfen wird: Die Kreise weiten sich aus und erreichen letztlich die gesamte Gesellschaft. Lange Wartezeiten auf Therapieplätze bedeuten nicht nur verlorene Monate für betroffene Kinder, sondern auch überforderte Eltern, die zwischen Beruf und Fürsorge zerrieben werden. Weite Anfahrtswege zu Fachpraxen kosten nicht nur Zeit und Geld, sondern verstärken die Isolation von Familien in ländlichen Regionen. Und fehlende Präventionsstrukturen in Schulen und Kitas führen dazu, dass Probleme unerkannt eskalieren – mit Folgen für das gesamte Klassenklima und die Bildungsbiografien.
Dr. Josepha Katzmann, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, bringt es auf den Punkt: „Je länger eine psychische Erkrankung unbehandelt besteht, desto höher ist das Risiko einer Chronifizierung, desto länger und stärker sind Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag eingeschränkt.“ Diese Einschränkungen gehen weit über die Therapieräume hinaus: Sie manifestieren sich in Schulabbrüchen, in späteren Arbeitsunfähigkeiten, in gestörten Familienbeziehungen – und damit in erheblichen gesellschaftlichen Kosten.
Die Lösung liegt im Dreiklang aus früher Intervention, niedrigschwelligen Angeboten und systemübergreifender Vernetzung. Wenn Lehrerinnen erste Warnsignale erkennen und wissen, an wen sie sich wenden können. Wenn Jugendzentren Anlaufpunkte für Gespräche bieten, bevor Probleme eskalieren. Wenn Kinderärzte, Therapeuten und Schulsozialarbeiter nahtlos zusammenarbeiten. Dann entsteht ein Netz, das junge Menschen auffängt, bevor sie tief fallen. Dieses Netz zu knüpfen ist keine Spezialaufgabe des Gesundheitswesens, sondern eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung – denn die seelische Gesundheit unserer Jugend bestimmt maßgeblich mit, wie unsere Gesellschaft von morgen aussieht.
Ausblick: Was jetzt ansteht
Die Woche der seelischen Gesundheit 2025 macht deutlich: Die Weichen für die psychische Versorgung junger Menschen müssen jetzt gestellt werden. Vier zentrale Handlungsfelder stehen dabei im Fokus, die politische und praktische Lösungen erfordern.
Die im Koalitionsvertrag angekündigte Anpassung der Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut*innen bleibt ein dringendes Vorhaben. Für eine wohnortnahe Versorgung braucht es mehr Behandlungsplätze – besonders in ländlichen Regionen, wo lange Anfahrtswege Familien zusätzlich belasten.
Präventionsarbeit muss aus der Projektförderung herauswachsen und dauerhaft verankert werden. Viele gute Ansätze zur psychischen Gesundheitsförderung in Schulen und Lebenswelten scheitern bisher an kurzfristigen Finanzierungszeiträumen. Hier gilt es, erfolgreiche Modelle zu verstetigen statt sie immer wieder neu beantragen zu müssen.
Bürokratische Hürden behindern zudem wirksame Hilfen. Die Richtlinie zur Komplexbehandlung nach § 92 Abs. 6b SGB V erweist sich als zu bürokratisch und beschränkt sich auf schwer beeinträchtigte Kinder und Jugendliche. Gefragt sind flexible Lösungen, die früher greifen – bevor soziale Beeinträchtigungen voll ausgeprägt sind.
Vernetzung zwischen den verschiedenen Hilfesystemen bildet das vierte entscheidende Element. Nur durch abgestimmte Zusammenarbeit über Sozialgesetzbücher hinweg lassen sich Brüche in Versorgungsketten vermeiden und nahtlose Unterstützung gewährleisten.
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Die im Folgenden dargestellten Inhalte und Zitate entstammen einer Pressemitteilung der Deutschen PsychotherapeutenVereinigung (DPtV).
Weiterführende Quellen:
- „Im Jahr 2019 waren in Deutschland rund 823.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene bis 24 Jahren in psychotherapeutischer Behandlung – das entspricht einer mehr als doppelten Zahl gegenüber 2009 (Anstieg um 104 %).“ – Quelle: https://www.vdek.com/magazin/ausgaben/2021-02/kinder-erhalten-immer-mehr-psychotherapie.html
- „Die Häufigkeit psychotherapeutischer Behandlungen variiert regional stark: 2019 erhielten in Berlin 5,19 % aller jungen Menschen eine Psychotherapie, in Mecklenburg-Vorpommern nur 3,33 %.“ – Quelle: https://www.ptaheute.de/aktuelles/2021/03/04/mehr-psychotherapie-bei-jungen-menschen
- „Im ersten Halbjahr 2020 wurden bei Kindern und Jugendlichen 3,7 % mehr Psychotherapie-Einheiten abgerechnet als im Vorjahreszeitraum; bei den Anträgen auf neue Therapien lag der Anstieg 2020 insgesamt bei 6,3 % gegenüber 2019.“ – Quelle: https://www.ptaheute.de/aktuelles/2021/03/04/mehr-psychotherapie-bei-jungen-menschen
- „69 % aller psychotherapeutischen Behandlungen 2019 bei jungen Menschen entfielen auf folgende vier Diagnosen: Reaktionen auf schwere Belastungen (23,0 %), Depressionen (18,4 %), Angststörungen (14,0 %), emotionale Störungen des Kindesalters (13,6 %).“ – Quelle: https://www.ptaheute.de/aktuelles/2021/03/04/mehr-psychotherapie-bei-jungen-menschen
- „Die Bedarfsplanung für Kinder- und Jugendpsychiater wurde 2022 angepasst, nun Zielgröße 15.210 Einwohner*innen unter 18 Jahren pro Arzt/Ärztin; trotzdem bleibt die Versorgung insbesondere in ländlichen Regionen schlechter.“ – Quelle: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC10328883
- „Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz für Kinder und Jugendliche sind hoch: 43,4 % warten länger als einen Monat auf ein Erstgespräch, bei 38,8 % beginnt die Behandlung erst nach über sechs Monaten (Stand ca. 2022).“ – Quelle: https://www.bundestag.de/resource/blob/916578/53724d526490deea69f736b1fda83e76/WD-9-059-22-pdf-data.pdf
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