– EU-Staaten investierten 2024 nur 0,12 % ihres Bruttonationaleinkommens in ärmste Länder.
– Entwicklungsgelder fließen zunehmend in strategisch vorteilhafte Kredite statt in nachhaltige Entwicklung.
– Dies führt zu einer Aushöhlung internationaler Verpflichtungen und benachteiligt den Globalen Süden.
AidWatch-Bericht 2025: EU-Staaten investieren Entwicklungsgelder strategisch statt bedarfsgerecht
Berlin, 22.10.2025. Der heute veröffentlichte AidWatch-Bericht 2025 von CONCORD, dem europäischen Dachverband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen, dokumentiert eine bedenkliche Schieflage in der europäischen Entwicklungsfinanzierung. Die Analyse zeigt, dass EU-Staaten öffentliche Mittel für Entwicklungszusammenarbeit zunehmend nach strategischen Eigeninteressen statt nach entwicklungspolitischer Notwendigkeit verteilen.
Michael Herbst, Vorstandsvorsitzender bei VENRO, kommentiert diese Entwicklung mit deutlichen Worten: „Regierungen priorisieren Investitionen dort, wo sie sich strategische Vorteile erhoffen, nicht dort, wo es dringend Impulse für wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Entwicklung braucht“.
Diese Praxis entferne sich fundamental vom ursprünglichen Anliegen der ODA-Verpflichtung, mindestens 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens in globale Entwicklung zu investieren. „Wir beobachten seit Jahren, dass Inlandsausgaben als ODA-Mittel deklariert werden und damit der Anteil der Gelder, die tatsächlich entwicklungsfördernd wirken, immer weiter sinkt“, so Herbst weiter. Die Konsequenz: „Die Menschen im Globalen Süden, die eigentlich profitieren sollten, ziehen zunehmend den Kürzeren.“
Die aktuelle Verschiebung hin zu wirtschaftlich vorteilhaften Krediten bezeichnet Herbst als „logischen nächsten Schritt“ in dieser Fehlentwicklung. Sein Fazit fällt eindeutig aus: „Der AidWatch-Bericht zeigt deutlich, dass wir hier eine massive Fehlentwicklung beobachten müssen“. Die Kernforderung lautet: „Entwicklungsfinanzierung muss in die globale Entwicklung zum Nutzen aller fließen. Diesem Anspruch werden wir aktuell nicht mehr gerecht.“
Hintergründe zur Entwicklungsfinanzierung: Warum die Mittelverteilung kritisch gesehen wird
Die Kritik von VENRO an der aktuellen Entwicklungsfinanzierung lässt sich nur verstehen, wenn man die Mechanismen hinter den offiziellen Zahlen kennt. Zwei zentrale Aspekte prägen die Diskussion: die Berechnungsmethode der ODA-Quote und die strategische Ausrichtung großer Investitionsprogramme.
Wie ODA berechnet wird
Seit 2018 wendet Deutschland bei der Berechnung seiner öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit das Zuschussäquivalenzsystem an. Dieses Verfahren bewertet Kredite nicht mehr nach ihrem Nominalwert, sondern nach ihrem Zuschusscharakter. Vereinfacht gesagt: Nur der Teil eines Kredits, der einem Geschenk entspricht – etwa weil er zu besonders günstigen Konditionen vergeben wird – zählt als offizielle Entwicklungshilfe.
Die deutschen ODA-Mittel werden laut Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung überwiegend in Form von Zuschüssen gewährt, Kredite spielen jedoch eine wachsende Rolle. Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 27,26 Milliarden Euro für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet, was einer ODA-Quote von 0,74 Prozent entsprach (Stand: 2021). Für 2024 werden nach OECD-Schätzung 0,67 Prozent (ca. 30 Mrd. Euro) berichtet (Stand: 2024)*.
Global Gateway: Strategie und Volumenziele
Parallel zu diesen Berechnungsmethoden gewinnen groß angelegte Investitionsprogramme an Bedeutung. Die EU startete mit dem Global Gateway 2021 eine Entwicklungsstrategie, mit der bis 2027 bis zu 300 Milliarden Euro in Infrastruktur und Nachhaltigkeit investiert werden sollen*.
Aus Sicht von VENRO verschärft diese Kombination aus veränderter Berechnungsmethode und strategisch ausgerichteten Großprojekten das Grundproblem: Immer mehr Mittel fließen dorthin, wo Geberländer wirtschaftliche oder politische Interessen verfolgen, statt in die ärmsten Länder, die auf ungebundene Zuschüsse angewiesen sind. Die wachsende Bedeutung von Krediten gegenüber Zuschüssen verschärft diese Entwicklung zusätzlich, da viele hochverschuldete Entwicklungsländer weitere Kredite kaum bedienen können.
Statistiken & regionale Verteilung
Die Entwicklung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) der EU-Institutionen zeigt in den letzten Jahren Schwankungen*. Die ODA-Quote, gemessen als Anteil am Bruttonationaleinkommen (BNE), lag 2021 bei 0,49 %, stieg 2022 auf 0,59 % und sank 2023 auf 0,57 % (Stand: 2021/2022/2023)*.
| Jahr | ODA-Quote (% des BNE) | Quelle | Stand |
|---|---|---|---|
| 2021 | 0,49 % | Donor Tracker* | 2021 |
| 2022 | 0,59 % | Donor Tracker* | 2022 |
| 2023 | 0,57 % | Donor Tracker* | 2023 |
Entwicklung der ODA-Quote der EU
Die Entwicklung von 2021 bis 2023 zeigt eine volatile Entwicklung der europäischen Entwicklungsfinanzierung. Nach dem Anstieg von 2021 auf 2022 folgte 2023 eine leichte Korrektur. Die EU zählt laut OECD mit 26,9 Milliarden US-Dollar ODA-Zahlungen zu den größten DAC-Gebern weltweit (Stand: 2024). Die kollektive Verpflichtung besteht bis 2030, mindestens 0,7 % des europäischen BNE für ODA bereitzustellen.
Regionale Verteilung 2023: Ukraine vs. Afrika
Die regionale Verteilung der Mittel offenbart deutliche Schwerpunkte. Die Mehrheit der ODA-Mittel der EU-Institutionen wurde 2023 bilateral vergeben, wobei über die Hälfte dieser bilateralen Mittel in die Ukraine floss. Im Vergleich erhielt Subsahara-Afrika 11,3 % der Mittel, während die MENA-Region (Nahost und Nordafrika) mit 7,3 % bedacht wurde (Stand: 2023, Quelle: OECD*). Diese Verteilung spiegelt die aktuellen geopolitischen Prioritäten wider und wirft Fragen zur Ausrichtung der europäischen Entwicklungspolitik auf.
Strategische Finanzierung und ihre globalen Folgen
Die zunehmende Ausrichtung von Entwicklungsgeldern an strategischen Interessen verändert die internationale Zusammenarbeit grundlegend. Während Geberländer wirtschaftliche und politische Vorteile im Blick haben, stellt sich die Frage nach den tatsächlichen Entwicklungswirkungen. Die Verschiebung hin zu kreditbasierter Finanzierung wirkt sich unterschiedlich auf Partnerländer aus und berührt zentrale Fragen globaler Gerechtigkeit.
Konsequenzen für Partnerländer
Entwicklungsländer sehen sich mit einem veränderten Finanzierungsmix konfrontiert. Kredite spielen eine wachsende Rolle in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit, wie das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung festhält (Stand: 2018)*. Seit 2018 kommt dabei das Zuschussäquivalenzsystem zur Anwendung, das den Zuschussanteil von Krediten bei der ODA-Berechnung berücksichtigt.
Diese Entwicklung birgt ambivalente Folgen:
- Mittelständische Unternehmen in Schwellenländern erhalten besseren Zugang zu Investitionskapital
- Hochverschuldete Länder riskieren zusätzliche Belastungen durch Kreditrückzahlungen
- Die Abhängigkeit von externen Finanzierungsquellen kann wachsen
Besonders kritisch wirkt sich aus, dass Gelder vermehrt in wirtschaftlich attraktive Schwellenländer fließen, während die ärmsten Staaten zurückbleiben. Die EU investierte 2024 nur 13,9 Milliarden Euro oder 0,12 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens in die am wenigsten entwickelten Länder*.
Debatte um Transparenz und Entwicklungswirkung
Fachleute bemängeln seit 2025 die mangelnde Vorhersehbarkeit europäischer Mittelvergabe. Die breite ODA-Definition ermöglicht flexible Verwendungen, erschwert jedoch transparente Berichterstattung und langfristige Entwicklungsplanung. ODA – Official Development Assistance – bezeichnet öffentliche Mittel, die laut OECD vorrangig der wirtschaftlichen Entwicklung und Wohlfahrtssteigerung in Entwicklungsländern dienen sollen.
Das EU-Programm Global Gateway, das Infrastrukturprojekte in Partnerländern finanziert*, steht exemplarisch für diese Entwicklung. Die zunehmende Verlagerung hin zu wirtschaftlich vorteilhaften Krediten wirft grundsätzliche Fragen auf: Erfüllen Geberländer noch ihre entwicklungspolitischen Verpflichtungen, oder dominieren strategische Eigeninteressen? Die Diskussion um die 0,7-Prozent-Zielmarke für Entwicklungsausgaben gewinnt vor diesem Hintergrund neue Dringlichkeit.
Ausblick & Forderungen
Der AidWatch-Bericht 2025 zeichnet ein klares Bild: Die aktuelle Verwendung von ODA-Mitteln entspricht kaum noch dem ursprünglichen Ziel entwicklungsfördernder Investitionen. Während die kollektive Verpflichtung, bis 2030 mindestens 0,7 Prozent des europäischen BNE für ODA bereitzustellen, formal bestehen bleibt, fließen 2024 nur 13,9 Milliarden Euro oder 0,12 % des EU-weiten Bruttonationaleinkommens in diese Förderung*. Vor diesem Hintergrund fordern zivilgesellschaftliche Akteure wie VENRO konkrete politische Korrekturen.
Politische Optionen bis 2030
Bis zum Stichjahr 2030 bleiben knapp fünf Jahre, um die Weichen neu zu stellen. Drei konkrete Handlungsoptionen stehen im Raum:
Erstens bedarf es einer kritischen Prüfung der ODA-Definition. Die zunehmende Einrechnung von Inlandsausgaben und wirtschaftlich vorteilhaften Krediten verwässert den entwicklungspolitischen Kern der Mittel. Eine strengere Definition könnte sicherstellen, dass Gelder tatsächlich dort ankommen, wo sie gebraucht werden.
Zweitens sollte eine stärkere Gewichtung von Zuschüssen gegenüber Krediten erfolgen. Die Ausweitung von Kreditprogrammen – beispielhaft im Global-Gateway-Rahmen genannt – birgt die Gefahr, Partnerländer zusätzlich zu verschulden, statt sie nachhaltig zu unterstützen.
Drittens ist mehr Transparenz bei bilateralen Mitteln essenziell. Nur durch lückenlose Offenlegung, welche Gelder wohin fließen und zu welchen Konditionen, lässt sich die beschriebene Fehlentwicklung wirksam adressieren und korrigieren.
Rolle von EU-Initiativen wie Global Gateway
Initiativen wie der europäische Global Gateway stehen exemplarisch für die aktuelle Schieflage. Sie müssen sich künftig stärker an entwicklungspolitischen statt an geostrategischen Interessen messen lassen. Die verbleibende Zeit bis 2030 erfordert ein entschlossenes Umsteuern – hin zu einer Entwicklungsfinanzierung, die ihrem Namen gerecht wird und tatsächlich dem Globalen Süden zugutekommt.
Die nachfolgenden Angaben und Zitate stammen aus einer Pressemitteilung von VENRO, dem deutschen Dachverband entwicklungspolitischer Nichtregierungsorganisationen.
Weiterführende Quellen:
- „Stand 2021 lag die ODA-Quote der EU-Institutionen bei 0,49 % des Bruttonationaleinkommens, 2022 bei 0,59 % und 2023 bei 0,57 %.“ – Quelle: https://donortracker.org/donor_profiles/eu
- „Im Jahr 2021 wurden in Deutschland 27,26 Milliarden Euro für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit aufgewendet, was einer ODA-Quote von 0,74 % entsprach. Für 2024 werden nach OECD-Schätzung 0,67 % (ca. 30 Mrd. Euro) berichtet.“ – Quelle: https://www.bmz.de/de/ministerium/zahlen-fakten/oda-zahlen/deutsche-oda-leistungen-19220
- „2024 ist die EU laut OECD mit 26,9 Mrd. US-Dollar ODA-Zahlungen die drittgrößte DAC-Geberinstitution; die kollektive Verpflichtung bleibt bis 2030, 0,7 % des europäischen BNE für ODA bereitzustellen.“ – Quelle: https://donortracker.org/donor_profiles/eu
- „Die deutschen ODA-Mittel werden überwiegend in Form von Zuschüssen gewährt, Kredite spielen jedoch eine wachsende Rolle. Seit 2018 wird bei der ODA-Berechnung das Zuschussäquivalenzsystem angewandt, das bei Krediten den Unterschied zwischen Brutto- und Netto-ODA entschärfen soll.“ – Quelle: https://www.bmz.de/de/ministerium/zahlen-fakten/oda-zahlen/deutsche-oda-leistungen-19220
- „Die EU startete mit dem Global Gateway 2021 eine Entwicklungsstrategie, mit der bis 2027 bis zu 300 Milliarden Euro in Infrastruktur und Nachhaltigkeit investiert werden sollen; der Vorschlag für 2028–2034 sieht eine Erhöhung auf 200 Mrd. Euro vor, was einem Plus von 75 % entspricht.“ – Quelle: https://donortracker.org/donor_profiles/eu
- „Die Mehrheit der ODA-Mittel der EU-Institutionen wird 2023 bilateral vergeben; über die Hälfte der Bilateralmittel entfällt auf die Ukraine, während Sub-Sahara-Afrika 11,3 % und die MENA-Region 7,3 % erhalten.“ – Quelle: https://www.oecd.org/en/publications/2025/06/development-co-operation-profiles_02ffa45c/european-union-institutions_e8346d2a.html
- „Experten kritisieren seit 2025 verstärkt die Unsicherheit und Flexibilität der Mittelverwendung der EU, da die weite und wenig konkretisierte ODA-Definition Transparenz und langfristige Entwicklungsorientierung behindere.“ – Quelle: https://donortracker.org/donor_profiles/eu